Vergabepraxis  EVB-IT  4 Nutzungsrechte im Kontext der EVB-IT  4.5 Nutzungsrechte in der Zwangsvollstreckung und Insolvenz 

Werk:
EVB-IT Praxisleitfaden
Herausgeber:
Wilhelm Kruth
Autoren:
Gerhard Deiters/ Wilhelm Kruth/ Dr. Roderic Ortner
Stand:
November 2014
Thema:
Leistungen im IT-Bereich

4.5.1 Übergabe und Hinterlegung des Quellcodes

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Mit der zuvor geschilderten insolvenzrechtlichen Problematik einher geht das Thema der Quellcodeübergabe und Quellcodehinterlegung. „Quellcode “ (auch „Source-Code“ genannt) ist nach der EVB-IT-Definition „Code eines Programms in der Fassung der Programmiersprache“. Soweit sich der Auftraggeber eine Software vom Auftragnehmer individuell erstellen lässt und der Auftragnehmer dann diese Software übereignet, findet § 103 InsO keine Anwendung. Es ist häufig so, dass dem Auftraggeber bei individueller Erstellung der Software auch der Quellcode der Software zu übergeben ist. Dies sieht das Default-Regime der EVB-IT auch so vor, siehe etwa Ziffer 18.1 EVB-IT System-AGB oder Ziffer 17.1 EVB-IT Erstellungs-AGB. Abweichungen hiervon sind freilich innerhalb der EVB-IT zulässig. Im Fall der Insolvenz des Auftragnehmers hat der Auftraggeber nicht die Sorge, dass er das Nutzungsrecht wieder verliert. Allerdings muss er schauen, dass er jemanden findet, der den Quellcode versteht und darauf aufbauen kann. Häufig sind dies die ehemaligen Mitarbeiter des nunmehr insolventen Auftragnehmers.

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Bei einem Vertrag über Standardsoftware wird der Anbieter in der Regel nicht bereit sein, den (wertvollen) Quellcode zu übergeben. Häufig besteht das gesamte Geschäftsmodell des Anbieters gerade in dem Vertrieb dieser bestimmten Software. Wenn nun aber jener Anbieter sich auflöst (zum Beispiel, weil er liquidiert wird), so steht der Auftraggeber vor dem Problem, dass er nicht einmal mehr Fehler der Software beheben kann, da er keinen Zugriff auf den – hierfür unterstellt erforderlichen – Quellcode hat. Um sowohl das Interesse des Anbieters an seinem Geschäfts- und Betriebsgeheimnis und Know-how als auch das Interesse des Auftraggebers an einer langfristig planbaren Nutzung der Standardsoftware und seiner Investition zu berücksichtigen, haben sich sog. Hinterlegungsvereinbarungen entwickelt. Diese werden auch „Software Escrow“ genannt. Dabei wird der Quellcode bei einer neutralen Stelle gegen Entgelt hinterlegt. Neutrale Stelle ist in der Regel ein Notar oder ein „Escrow Agent“. Ein Escrow Agent ist ein Unternehmen, das häufig aus IT-Fachleuten besteht, die – anders als meist ein Notar – auch überprüfen können, ob sie den echten Quellcode der Software in den Händen halten oder eine bloße Robin-Hood-DVD. Dazu übersetzen sie den Quellcode in den sog. Objektcode. „Objektcode “ ist nach der EVB-IT-Definition das „Zwischenergebnis eines Compiler- bzw. Übersetzungsvorgangs des Quellcodes eines Programms“. Der Vorgang des Übersetzens vom Quell- in den Objektcode wird „Kompilieren“ genannt. Die EVB-IT sehen vor, dass die Vertragsparteien eine Hinterlegungsvereinbarung als Anlage anfügen können, die EVB-IT bieten jedoch kein Muster für eine solche Hinterlegungsvereinbarung. In der Hinterlegungsvereinbarung zu regeln sind insbesondere:

a)

die genaue Hinterlegungspflicht ,

b)

die genauen Herausgabegegenstände ,

c)

die Hinterlegungsstelle und deren Rechte,

d)

die genauen Herausgabefälle ,

e)

die Hinterlegungsdauer und

f)

wer die Kosten für die Hinterlegung zu tragen hat.

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Der wichtigste Herausgabefall ist der Fall der Insolvenz des Anbieters der Software. Nach § 91 Abs. 1 InsO können zwar Rechte an den Gegenständen der Insolvenzmasse nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht wirksam erworben werden. Allerdings werden nach der Rechtsprechung des BGH bedingt begründete Rechte im Insolvenzfall als bereits bestehend behandelt (Urteil vom 27.05.2003 – IX ZR 51/02). „Dies gilt selbst dann, wenn die Bedingung erst nach Insolvenzeröffnung eintritt (BGHZ 70, 75, 77). Insolvenzfest ist nicht nur die uneingeschränkte Übertragung eines bedingten Rechts, sondern auch die unter einer Bedingung erfolgte Übertragung eines unbedingten Rechts (BGHZ 155, 87, 92 f.). Entscheidend ist, ob das Recht aus dem Vermögen des Schuldners bereits zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung ausgeschieden war, sodass für ihn keine Möglichkeit mehr bestand, es aufgrund alleiniger Entscheidung wieder zurückzuerlangen.“ (Urteil vom 17.11.2005 – IX ZR 162/04 –, juris m.w.N.). In der zitierten Entscheidung betont der BGH auch, dass eine entsprechende Regelung nicht nach § 119 InsO unwirksam ist. Noch nicht abschließend gelöst – und entsprechend umstritten – ist die Vertragsgestaltung, die zur Insolvenzfestigkeit führt, wenn der Quellcode etc. bei einem Treuhänder hinterlegt wurde.

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Folgender Klauselvorschlag erfolgt daher ohne Gewähr:

㤠1 Rechte am Quellcode

1.

Der Auftragnehmer überträgt dem Auftraggeber mit der Übergabe der jeweiligen Hinterlegungsgegenstände das Eigentum an diesen. Der Auftraggeber nimmt das Angebot zur Eigentumsübertragung hiermit an.

2.

Der Auftragnehmer räumt dem Auftraggeber an der als Teil der Hinterlegungsgegenstände im Quellcode überlassenen Software das einfache Recht ein, die Hinterlegungsgegenstände entsprechend dem zwischen den Parteien geschlossenen Erstellungsvertrag zu nutzen, durch die Hinterlegungsstelle zwecks Überlassung im Herausgabefall gem. § 3 vervielfältigen zu lassen sowie die Hinterlegungsgegenstände nach Maßgabe der Regelungen des Erstellungsvertrags und der dort vereinbarten Nutzungsrechte zu nutzen, sie insbesondere zu bearbeiten und/oder durch Dritte bearbeiten zu lassen. Der Auftraggeber nimmt die Rechtseinräumung bereits hiermit an.

3.

Dem Auftraggeber ist es vorbehaltlich des § 2 nicht erlaubt, die Hinterlegungsgegenstände Dritten zu überlassen und/oder diese an Dritte zu veräußern, zu vermieten oder zu verleihen.

§ 2 Hinterlegung

1.

Der Auftraggeber verpflichtet sich, die ihm überlassenen Hinterlegungsgegenstände unmittelbar nach Überlassung in dem versiegelten Umschlag an die Hinterlegungsstelle zu übergeben.

2.

Der Auftraggeber wird die Hinterlegungsstelle anweisen, dem Auftragnehmer gegebenenfalls mitzuteilen, dass das Siegel des Umschlags, in dem die Hinterlegungsgegenstände übergeben wurden, unversehrt ist. Der Auftragnehmer ist berechtigt, die Hinterlegungsstelle um eine entsprechende Bestätigung zu bitten. Der Auftraggeber trägt in seiner Vereinbarung mit der Hinterlegungsstelle Sorge dafür, dass die Hinterlegungsstelle dieses auf Bitte des Auftragnehmers bestätigt.

3.

Der Auftraggeber verpflichtet sich, mit der Hinterlegungsstelle eine Hinterlegungsvereinbarung zu treffen, nach welcher die Hinterlegungsgegenstände an den Auftraggeber nur unter den in § 3 abschließend beschriebenen Bedingungen herausgegeben werden.

§ 3 Herausgabefälle

1.

Der Auftraggeber ist als Eigentümer berechtigt, die Hinterlegungsgegenstände jederzeit von der Hinterlegungsstelle herauszuverlangen und/oder einzusehen. Der Auftraggeber verpflichtet sich jedoch, von diesem Recht nur unter den im nachfolgenden Absatz 2 genannten Voraussetzungen Gebrauch zu machen.

2.

Der Auftraggeber wird mit der Hinterlegungsstelle vereinbaren, dass diese ihm oder einem vom Auftraggeber beauftragten Dritten nur in den folgenden Fällen die Hinterlegungsgegenstände herausgibt oder Einsicht in diese gewährt:

a)

Das Unternehmen des Auftragnehmers wurde liquidiert.

b)

Der Auftragnehmer stellt den Geschäftsbetrieb ein.

c)

Der Auftragnehmer stellt die Pflege und/oder Weiterentwicklung der Software ein.

d)

Der Auftragnehmer weigert sich entgegen den Pflichten aus dem Erstellungsvertrag, Pflegearbeiten und/oder Mängelbeseitigungen durchzuführen.

e)

Der Auftragnehmer ist mit Leistungen nach d) derart im Verzug, dass die ordnungsgemäße Durchführung der Aufgaben des Auftraggebers, zu deren Zweck die Software verwendet wird, gefährdet ist.

f)

Die Hinterlegungsgegenstände sind aufgrund einer einstweiligen Verfügung und/oder eines Urteils herauszugeben.

g)

Der Auftragnehmer willigt in die Herausgabe ein.

3.

Der Auftraggeber ist zum Beweis des Eintritts der Bedingungen eines vorstehend genannten Herausgabefalls gegenüber der Hinterlegungsstelle verpflichtet. Der Auftraggeber vereinbart mit der Hinterlegungsstelle, dass diese den Auftragnehmer über die vom Auftraggeber geforderte Herausgabe informieren wird.

4.

Die Hinterlegungsstelle ist berechtigt, die Hinterlegungsgegenstände herauszugeben, wenn der Auftragnehmer nicht unverzüglich, spätestens aber innerhalb von 14 Tagen der Herausgabe widerspricht. Für den Fall, dass der Auftragnehmer der Herausgabe widerspricht, hat der Auftraggeber mit der Hinterlegungsstelle zu vereinbaren, dass die Hinterlegungsstelle nach billigem Ermessen (§ 317 BGB) entscheidet, ob sie die Voraussetzung für einen Herausgabefall gleichwohl als gegeben ansieht. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein rechtskräftiger gerichtlicher Titel vorliegt.“

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Gleichermaßen zu regeln sind die genauen Nutzungsrechte, die an dem Quellcode im Herausgabefall eingeräumt werden. In den EVB-IT heißt es hierzu (siehe etwa Ziffer 17.2 Erstellungs-AGB ): „Die Hinterlegungsverpflichtung bezieht sich auf die vom Auftragnehmer auf der Grundlage des EVB-IT Erstellungsvertrages jeweils letzte geänderte Fassung des Quellcodes eines überlassenen Programmstandes einschließlich von Fehlerbeseitigungen. An sämtlichen Fassungen des Quellcodes von Individualsoftware stehen dem Auftraggeber die Rechte gemäß Ziffer 2.1.2.1 zu. An sämtlichen zu hinterlegenden Fassungen des Quellcodes von Standardsoftware steht dem Auftraggeber das für den Fall der Herausgabe aufschiebend bedingte Recht zu, diese zum Zwecke der Fehlerbeseitigung und zur Aufrechterhaltung der Nutzungsmöglichkeit zu bearbeiten und daraus ausführbare neue Programmstände zu erzeugen, an denen dem Auftraggeber wiederum dieselben Rechte wie an dem ursprünglich überlassenen Stand der Standardsoftware zustehen. Die vorgenannten Rechteeinräumungen erfolgen bei Quellcodes von Individualsoftware mit der jeweiligen Entstehung derselben und bei Quellcodes von Standardsoftware mit Überlassung der ausführbaren Programmstände.

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Damit gehen die EVB-IT weiter als die gesetzliche Regelung in § 69d Abs. 1 UrhG, die nur das Recht zur Fehlerberichtigung vorsieht.

Praxistipp

Bei Beschaffung von Standardsoftware muss der Auftraggeber vorher prüfen, ob er eine Hinterlegung der Software vorsehen möchte. Eine Hinterlegung macht Sinn, wenn Unternehmen bezuschlagt werden könnten, die zwar innovativ, aber noch nicht am Markt etabliert sind. Das Steuerungsinstrument hierzu ist die Festlegung der Eignungskriterien. Eine Hinterlegung macht dort keinen Sinn, wenn es sich um Software von Monopolisten handelt, die im Fall einer Hinterlegungspflicht bereits selbst kein Angebot abgeben würden oder dem Bieter die entsprechende Befugnis verweigern. Entscheidet sich der Auftraggeber für eine Hinterlegung, so ist die entsprechende Vereinbarung Bestandteil der Vergabeunterlagen und es ist auf einen Gleichlauf des Beschaffungs- und Hinterlegungsvertrages zu achten. Der Auftraggeber sollte wegen der derzeitig rechtsunsicheren Lage ohne juristische Beratung nicht versuchen, eine Hinterlegungsvereinbarung selbst zu entwerfen.